Ohne Liebe ist alles nichts
© Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
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Ohne Liebe ist alles nichts.
Eichstätt, Caritas, 28. September 2018
Unterscheidungen
Chesterton, der die wunderbare Figur von Father Brown erfand, sagte, die wirklich wichtigen Dinge ließen sich nicht bestimmen: Was ist ein Arm, ein Fuß? Die Bestimmung wird umständlich und damit läppisch. Was sind Kinder? Ein Soziologe formulierte: "Kinder sind die unbeabsichtigte Nebenfolge anderweitig absichtsgelenkter Handlungen."
Was ist die Caritas? Wir wissen selbstverständlich, was das ist - warum sollen wir in einer Festrede darüber sprechen? Weil im Selbstverständlichen viel Halbbewußtes, Übersehenes steckt, das tiefer fruchtbar werden kann.
Ach, die Liebe! Caritas heißt Liebe, und so wäre Ihr Beruf also zu lieben… Um den Satz ohne Ironie zu sagen, muss die folgende Rede unterscheiden: die vielerlei Arten von Liebe. Die meisten europäischen Sprachen haben mehrere Wörter für Liebe; das Deutsche, das sonst so freudig ist zu differenzieren, benutzt erstaunlicherweise nur das eine Wort und benennt damit sowohl die rein körperliche Spannung, die sich entladen will ("Liebe machen") als auch die Geist und Leib umfassende innige, währende Zuneigung.
Noch dazu sprechen wir von Liebe in einer Zeit, die in Sprache und im Verhalten darunter eine forcierte Sexualität versteht - schon im Kern eine gewalttätige Verkürzung der Liebe auf Egogenuß (auch zu zweit).
Der erste Schritt des Nachdenkens lautet also: Was ist Liebe? Sie fächert sich in viele Farben auf: Nicht allein das Sexuelle, auch das erotische Bedürfen und Begehren gehören dazu, auch die Liebe zum Kind, zum Freund, zum Schönen, zu Gott - und zum eigenen Selbst. Bei den Griechen gibt es die Unterscheidung von eros (dem Begehren, Habenwollen, Ersehnen) und agape (dem uneigennützigen Lieben). Dazu kommt eine dritte Spielform, philia, die Freundschaft, die sich auf ein drittes, gemeinsam Geliebtes richtet. Auf Latein lauten die Begriffe: amor, caritas und amicitia.
Und wo bleibt der Sex? Die griechische und die römische Antike kannte ihn sehr wohl und zelebrierte ihn, aber weder im Eros noch im Amor schwingt erstrangig der Sex mit, sondern er bleibt dem weiten Feld des Begehrens ein- und untergeordnet, aber als stark animalischer, rauschhafter Trieb (mania) eingedämmt.
Berufsbild Caritas
Welcher Art ist dann die "Liebe" zu den Hilfsbedürftigen, gerade unter christlichen Vorzeichen? Es ist kulturhistorisch bekannt, daß erst das Christentum den Armen und Kranken als zu ehrendes und zu liebendes Abbild Christi wahrnimmt und von daher zu ganz anderer Sorge um ihn befähigt als in anderen religiösen Kulturen üblich. Aus diesem Wurzelboden stammt die berühmte Antwort der Schwester auf einer Aussätzigeninsel, zu der ein Reporter sagte, für Tausend Dollar würde er diese dreckigen Lumpen nicht waschen, und sie antwortete: "Ich auch nicht."
Was treibt sie dann, es doch zu tun? Offenbar wirkt die göttliche Liebe auch in der menschlichen Umsetzung. Wie sieht sie aber aus?
Dazu ist eine weitere Unterscheidung nötig: nämlich die Institution Caritas einerseits und die einzelnen, die ihr Gesicht verleihen, andererseits. Im Folgenden soll es nicht erstrangig um die Institution gehen, sondern um die ausführenden Menschen, weil sie erst die Struktur verlebendigen. Kann man dabei überhaupt von Liebe im Sinn eines Berufes sprechen? Gewiß nicht für die Organisation als solche, aber doch für die Einstellung des Einzelnen. Welche Haltungen der "Liebe" lassen sich an das Berufsbild der Caritas-Mitarbeiter anbinden? Wie steht das caritative Tun zu den bedürftigen Menschen?
Ein caritativer Beruf zählt zweifellos zu den "Berufen" im Wortsinn - also zum Berufensein zu Tätigkeiten, die nicht rein zwecklich abgeleistet werden können und nach Ablauf der Bürozeit beendet sind. Denn Gegenstand dieses Berufes ist der Mensch, das heißt kein Objekt, sondern ein Subjekt in seiner Wechselwirkung aus Leib, Geist und Seele - was meist nicht ausbalanziert ist. Wie der Lehrer, wie der Seelsorger, wie Mutter und Vater, wie die Krankenschwester, und so wäre noch mehr aufzuzählen, sind Caritas-Mitarbeiter nicht einfach Angestellte, sondern überwiegend Ratgeber, die mit Lebendigem zu tun haben. Und Lebendiges, insbesondere das Menschliche, ist nicht nur quantitativ-meßbar einzufangen, steht vielmehr unter anderen Vorzeichen: des Unvorhersehbaren, des Qualitativen, des Einzigartigen. Für diese Ethik gibt es ein besonderes, wissenschaftlich klingendes Wort: die Ethik des Supererogativen. Erogare heißt "dringend bitten"; super heißt "über": also "mehr als erbeten tun". Supererogativ ist das Ungeschuldete, ein Leisten "über das hinaus", was man abrechnen kann. Dazu gehört auch die Erfahrung, daß die Helfer zuweilen selbst (die beste) Hilfe sind, das heißt sie wirken schon über ihr Dasein, ihre Ruhe, ihre Zuversicht, schlicht: über ihre Person. Wie könnte man das auf dem Lohnzettel vergüten?
Heißt das aber, daß jeder Helfer "supererogativ" jeden Hilfesuchenden ausdrücklich "lieben" soll? Zumal unter dem verpflichtenden Liebesgebot des Evangeliums? Zweifellos ist dies eine Überforderung, und Liebe ist nicht Gegenstand des Einstellungsgesprächs, das die Institution Caritas mit ihren Angestellten führt, und kann auch gar nicht Gegenstand des Vertrags sein. Und trotzdem: Zum Berufsbild Caritas gehört vom Auftrag Christi her, der sich ja im Namen Caritas spiegelt, eine Bereitschaft, die eigene Arbeit nicht nur sachgemäß, sondern auch mit innerer Zustimmung, mit einem Schuss Freiwilligkeit, so gut es geht: mit Herzblut zu tun.
Freilich lauern auch hier Irrwege, die zu vermeiden sind.
Irrweg 1: Caritas als gefühlsmäßiges, unbeschränktes Wohltun
Allerdings ist es gefährlich, den Begriff umfassender Liebe auf das Verhältnis des einzelnen Mitarbeiters zum Empfänger anzuwenden. Erinnert sei an eine vergleichbare Berufsgruppe, die der Erzieher, die vor einer ähnlichen Frage der Zuwendung steht. "Dein Lehrer liebt dich", hieß die provokante Überschrift in der FAZ nach Bekanntwerden der Machenschaften an der Odenwaldschule. Ähnlich gab es eine Zeitlang im Gefolge der 68er Ideologien die Ansicht, der Psychotherapeut müsse sich womöglich auch sexuell seinem Patienten zur Verfügung stellen, um ihn "aufzubauen". Das Infame dabei ist, daß dann freilich auch der Sex zur Sache wird, solange keine wirkliche Liebe, sondern nur absichtliche "Therapie" mitschwingt.
Also ist Caritas bei den Mitarbeitern weder eine Forderung nach Gefühl noch eine Forderung nach unangemessenem, z.B. grenzenlosen Einsatz der eigenen Person, sondern eine Frage sachlicher Art: Was benötigt mein Gegenüber wirklich (nicht erträumt) und wo sind die sachlichen Grenzen des Helfens? Ansprüche müssen auf ihre Verhältnismäßigkeit, das überhaupt Leistbare geprüft werden (übrigens auch ein Grundsatz medizinischer Ethik). Das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße. Dieser wichtige Satz holt das Gute aus dem bloßen Empfinden und dem subjektiven Wohlwollen des Helfers heraus.
Auch die heute überbordende Rede von der Barmherzigkeit vernachlässigt die Frage nach der Wahrheit, der sachgemäßen Richtigkeit des Tuns. Gutsein und Wahrheit schließen sich keineswegs aus, aber die Wahrheit geht dem Guten in der inneren Ordnung voraus. Sonst gibt es eine zahnlose Liebe und ein gefühliges Tun, aber kein rechtes und angemessenes Handeln."Wahrheit [Gerechtigkeit] ohne Liebe [Barmherzigkeit] braucht nicht sterben, nur richten; Liebe [Barmherzigkeit] ohne Wahrheit [Gerechtigkeit] braucht gleichfalls nicht sterben, nur nachgeben. Wo aber beide zusammen sind, ereignet sich das Kreuz."
Irrweg 2: Caritas als "Job" oder als "Dienst nach Vorschrift"
Auf der anderen Seite steht der Job, vorwiegend zum Geldverdienen angetreten. Das ist deswegen noch kein schlechter, aber doch ein vordergründiger Einsatz. Man verwaltet die Not anderer bürokratisch-routiniert und unter minimalem Aufwand, klammert dabei die persönliche Beteiligung aus. Selbst dann aber, wenn es nur um einen Job oder einen Dienst nach Vorschrift geht, sollte auf Dauer ein anderes Verhältnis aufwachen: daß die Arbeit befriedigt, ihr Nutzen mich freut, und von dort ein Übergang vom Spaß am eigenen Können bis zu einer ausdrücklichen Freude an der Aufgabe erwachsen kann. Das geschieht immer, wenn die Arbeit nicht nur für andere Zwecke (Geld, Ansehen) geleistet, sondern in sich selbst sinnvoll wird.
Nach den Irrwegen übergroßen Gefühls und des lässigen, unbeteiligten Jobs nun aber nochmals die Frage: Wie gelingt Lieben?
Liebe und Selbstliebe: eine gute Mischung
Eine berühmte Studie über Eros und Agape (von Andres Nygren 1930) machte in bester Absicht einen unüberbrückbaren Gegensatz auf zwischen der erotischen Liebe, die den anderen für sich begehrt, und agape/caritas, die vollkommen selbstlos handeln soll - und eben das sei Liebe im christlichen Sinn, ja ausschließliche Liebe Gottes. Zwischen der menschlichen, bedürftigen Natur und der unbedürftigen, selbstvergessenen, absichtslosen Liebe bestehe ein gewaltsamer Bruch, den das Christentum fordere. Liebe sei in ihrer höchsten, also fast uner-reichbaren Erscheinung nur noch selbstlos, danklos, echolos, dürfe vom anderen nichts beanspruchen.
In jüngster Zeit hat Jacques Derrida analog von der "reinen Gabe" gesprochen, die der Geber sofort vergessen solle. In der absurden Steigerung heißt das: Weder Geber noch Empfänger dürften von der Liebe wissen, die in der Gabe steckt, um sich nicht gegenseitig zur Gegenliebe und Gegengabe zu "erpressen".
Die tiefste Verdächtigung lautet: Ist Freude über die Freude des anderen nicht selbstsüchtig? Neurologisch lassen sich heute Reaktionen im Gehirn nachweisen, die auf das Glück und die Freude eines anderen erfolgen. Zugespitzt läßt sich sogar behaupten, es gebe Glück nur im Sinn der Resonanz - ist es dann "unreines" Glück? Wenn also jemand - so das ironische Bei-spiel - einer Dame einen Blumenstrauß bringe, werde sie sich in Zukunft mit den Worten bedanken: "Wie reizend, daß Sie sich eine Freude machen wollen..."
Aber diese Trennung von bedürftiger, eigennütziger Natur und angeblich unbedürftiger, uneigennütziger Liebe ist unsinnig. Muß man gänzlich im Wohlwollen für den anderen aufgehen und der eigenen Natur absterben? Nein: Immer bleibt die eigene Natur Ausgang einer Dynamik und der gewaltige Motor einer Lebendigkeit, die nicht gegen sich selbst wüten kann. Die zuversichtliche Unbefangenheit eines Thomas von Aquin sagt: "Alle Liebe gründet in Selbstliebe." Und das ist nicht allein legitim, es ist auch sinnvoll und erfüllend. Im Glück des anderen zugleich rückgespiegelt sich selbst genießen, sich an sich selbst freuen, ist natürlich. Es gibt kein isoliertes, einseitiges Glück - es steigert sich durch die Antwort des anderen. Man darf also auf sie warten und enttäuscht sein, wenn sie ausbleibt.
Arbeit wird damit keineswegs zwecklich, sondern sinnvoll: ausgerichtet auf das Gegenüber und sich freuend an dessen Freude, trauernd mit seiner Trauer, wartend auf seinen Dank. Die "Liebe" zu Hilfsbedürftigen ist nüchterne Barmherzigkeit, in der Wohlwollen, Sachlichkeit, Eigen- und Fremdinteresse legitim gemischt sind.
Ethisch heißt das: Der caritativ Handelnde will das Wohl des anderen, aber auch im Zug eigener Anerkennung. Und das ist gerechtfertigt, denn Dank, Anerkennung, Resonanz sind der Schöpfung eingeschrieben. Im Blick auf diese schöpfungshafte Natürlichkeit formuliert nochmals Thomas von Aquin (Sth II, II, 108, 2) ebenso lakonisch wie klug den Grundsatz aller gelingenden Ethik: "Die Tugend vervollkommnet uns dahin, unserer natürlichen Neigung zu folgen: auf die rechte Weise."
Folgerungen für die Institution
Auch für die Caritas als Institution steckt in der Selbstlosigkeits-Theorie eine Verdächtigung: Sie handle eben nur dann christlich, wenn sie gar keine eigenen "Interessen" mehr vertrete und wahrnehme. Sie habe immer ein Optimum an Leistung, das Bestmögliche einzusetzen; es dürfe nichts zu teuer, zu langwierig, zu aufwendig sein, wenn es um das Wohl der Notleidenden gehe. Alles andere sei von sich aus schon Inhumanität. Reine caritas müsse die Verhältnismäßigkeit von Einsatz und Wirkung ausschließen, denn die Abschätzung des "angemessenen Aufwands" im Blick auf den möglichen Erfolg sei unethisch. Kosten-Nutzen-Denken sei grundsätzlich aus der Caritas zu entfernen.
Dieses Extrem kann weder institutionell noch individuell durchgehalten werden, einfach weil die Mittel begrenzt sind. Darf die Institution nicht auf öffentlichen Dank und z.B. auch politische Anerkennung warten? Darf, ja soll sie den Einsatz von Sachkönnen nicht auch grundsätzlich am Erfolg messen?
Caritas öffnet einen Spielraum zwischen Linderung von (unbegrenzter) Not und optimalem Einsatz von (begrenzten) Mitteln, der keine der beiden Seiten ausschließt oder ins Extrem treibt. Das Selbstverständliche und Natürliche, nämlich das verhältnismäßige Helfen, bleibt in dem Spielraum erhalten, es wird sogar vorausgesetzt und durch das sachgerechte Tun kultiviert. Es gibt keine ethische Pflicht der Institution zur totalen Verausgabung, zum Ruin - aber auch keine egoistische Selbstverwahrung und unbeteiligte Kühle gegenüber dem Hilfsbedürftigen. Dieser Spielraum ist der Gestaltung überlassen; er kann sich zu großen uneigennützigen Taten erweitern, er kann in einer maßvollen Mitte bleiben.
Caritas Dei
Die ungeheure Art und Weise, wie Gott selbst liebt, soll als Horizont unseres menschlichen Tuns wenigstens aufleuchten. Agape ist in den letzten Reden Jesu (Joh 15,9-13) so dicht gewunden, daß der Text sich zu drehen scheint. "Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich meines Vaters Gebote gehalten habe und bleibe in seiner Liebe. (…) Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe.Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde."
Indem Johannes immer wieder das Ungeheure und nie Vergessene zu fassen sucht, umkreist er die Flamme der Liebe in der letzten Nacht Jesu und versengt sich fast daran. Okeanisches Reden hat man solche Texte genannt: So wie der Ozean immer wieder anrollt, im lebendigen Rhythmus und doch niemals mit genau demselben Wellenschlag - ebenso brandet hier die Liebe des Vaters an den Sohn an (und in welcher dunklen Stunde!), vom Sohn schäumt die Welle der Liebe weiter zu den Freunden. Niemals sonst sind in der Weltliteratur solche Sätze gesagt worden, niemals sonst ist das Unfaßliche (und seien wir ehrlich: das uns kaum Glaubliche) über Gott gesagt worden: Er sei die Liebe. Das griechische Wort agape meint nicht Mitleid, nicht Herablassung, nicht konturlose Nachgiebigkeit; es meint Liebe, gemischt mit Schmerz. Denn wirkliches Lieben ist bitter, amare amare est, sagt das römische Wort. Herz reimt sich auf Schmerz - erst recht bei Gott. Nichts hatten die Menschen bisher von solcher Liebe gewußt, nichts wissen viele Religionen von der Liebe, die von ihren dunklen Göttern das Übelwollen, den Tod, die Gewalt erwarten.
Vergessen wir nicht: Als Abraham seinen Sohn opferte, hielt im letzten Augenblick ein Engel den Arm des Geprüften auf. Auf Golgatha geschah keine Schonung - diesmal hing kein Widder mehr im Strauch, weder für den Vater noch für den Sohn. Diesmal wurde die Bewegung der Liebe bis zum Ende vollzogen. Bitter wie nichts, flammend wie nichts war diese Liebe, mit der der Vater seinen Sohn an die Welt preisgab (und sich dafür tadeln lassen muß, ob es nicht billiger gegangen wäre).
Leider ist aus dieser verzehrenden Liebe das zahme und zähmende Wort vom "lieben Gott" geworden, das ein ungefähres und weichliches Wohlwollen nahelegt. Auch die Rede von der Barmherzigkeit, so richtig sie ist, verschleiert doch die Tatsache, daß die Liebe selbst fordert, ja, streng fordert, nämlich daß sie wiedergeliebt werde und daß sie in diesem Sinn etwas Zwingendes und Unerbittliches hat.
Diese göttliche Art der Liebe wirft für die Caritas im menschlichen Bereich große Fragen auf. Denn es liegt auf der Hand, daß Caritas im menschlichen und vor allem im organisierten Bereich diese Höchstform der Liebe nicht einfach einholt, auch nicht einholen kann. Und trotzdem ist es gut, sich den Horizont immer wieder vor Augen zu halten; und es mag einzelne geben, immer wieder, die als Leuchtfeuer der göttlichen Liebe nahekommen.
Irdische und himmlische Liebe, gefährdet und wunderbar
Wenn das Christentum für die Zukunft eine Bedeutung behalten soll, dann in der Form, daß es die memoria an die Gesamtgestalt der Liebe offenhält. Um die Liebe nicht zu töten in ihrer Spannung von der Leiblichkeit über die sachorientierte Barmherzigkeit bis hin zur einzigen großen göttlichen Liebe, selbst in der Gestalt des Schmerzes, bedarf es wohl der ganz großen Geste, welche die Bibel hat. Denn in der Tiefe des jüdisch-christlichen Gedächtnisses, in seiner besten Überlieferung, ist die Liebe nicht verstümmelt, sondern ins Göttlich-Große geöff-net.
Wenn die religiöse Kultur im heutigen Bewußtsein abhanden kommt, worin diese riesige Geste des Liebens und Leidens von Gott selbst vollzogen wird, wieviel gelingt dann noch am Hingeben und Weggeben der Liebe? Können wir das "selbständig"? Ist die Löschung Gottes nicht in der Folge auch ein Mord an der Liebe?
Deus caritas est, überschrieb Benedikt XVI. seine erste Enzyklika. Und was niemand vorhersah: Er hat beide Arten von Liebe ins Gespräch gebracht, die irdische und die himmlische Liebe. Überraschend fügt er Eros und Agape zusammen, denn die Liebe, jene aus der Natur, die von unten stammt und von sich aus irregehen oder zu selbstbezogen werden kann, wird durch die Liebe von oben gehalten, geleitet, geheiligt. Und die Liebe von oben, die göttliche Liebe selbst, ist "abgestiegen" in die nächtlichen Gassen des Menschlichen, um es einzuholen. Ach, geheimnisvolle Liebe.
Von dem Zisterzienser und Schüler des Mystikers der Liebe, Bernhard von Clairvaux, Wilhelm von St. Thierry (12. Jahrhundert), stammt der Text:
"O Liebe, von der jede Liebe
ihren Namen hat, auch die leibliche,
und sogar die entartete Liebe,
heilige und heiligmachende Liebe,
rein und reinigend,
lebenschenkendes Leben,
öffne uns dein heiliges Lied,
enthülle das Geheimnis deines Kusses,
und den tiefen Sinn deines Geflüsters,
mit dem du im Herzen deiner Söhne
bezaubernd von deiner Kraft
und der seligen Freude an dir singst."
Ohne Liebe ist alles nichts. Man kann der gegenwärtigen Kultur nur wünschen, von ferne den Saum dieser Erfahrung zu berühren.
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Der Festvortrag als Download ...