Den Nächsten im Licht Gottes sehen
"Religion erstickt den gesellschaftlichen Fortschritt und das freie Denken." Das hält die säkulare Welt seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts der Kirche und dem gläubigen Menschen entgegen. In der Emanzipation des Menschen vom Glauben an Gott sowie von der Kirche erwarteten sich die geistigen Impulsgeber und Anführer der Aufklärung den Durchbruch und den Sieg der Vernunft verbunden mit dem Anbruch eines wahren Humanismus unter den Menschen, eines besseren Miteinanders der Menschen. Religion und Glaube stehe für die Fesseln der Emotionalität, der Leidenschaft und Angst, welche die Vernunft des Menschen blockiere, so meinten sie. Heute steht Religion angesichts fundamentalistischer Tendenzen und Radikalisierungen wiederum auf dem Prüfstand. Welche Gewaltpotentiale sind der Religion, dem Gottesglauben immanent? Muss Religion nicht eine humanistisch ausgerichtete Aufklärung durchlaufen, um überhaupt dem Menschen dienlich sein zu können?
Andererseits kam gerade in der jüngeren Geschichte im Gefolge einer allgemeinen Emanzipationsbewegung von Glaube und Kirche ein Ausmaß an Unheil, an Leid und Grauen, an Ungerechtigkeit über Menschen und Welt, wie es sich die Menschheit zuvor kaum vorstellen konnte. Viele Fragen bewegen unsere Zeit und uns Gläubige: Der Frage nach dem wahren Wesen von Religion, die Frage, ob Religion viele Nöte unserer Zeit verursacht oder Lösung der Nöte sein kann, also notwendend ist oder zumindest sein kann. Angesichts eines solchen Fragehorizonts dürfen wir Christen uns nicht bequem einrichten und wegschauen, geschweige denn uns beleidigt aus einer Gesellschaft zurückziehen, die dem Glauben kritisch gegenübertritt. Unser christlicher Glaube und die Gemeinschaft der Kirche ist vielmehr gerufen, Antwort zu geben.
Heute sind wir zusammengekommen, um uns zu vergewissern, dass Caritas eine Antwort geben will. "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Das von Jesus bekräftigte biblische Liebesgebot der Gottes- und Nächstenliebe und die darin gründende kirchliche Caritas als Handeln im Geiste Jesu ist ein dem Evangelium gemäßer Antwortversuch der Kirche und des Christen auf die Zweifel und Nöte unserer Zeit.
"Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst" (vgl. Lk 10,27f.): D. h. ich soll den Nächsten, den Menschen im Licht Gottes, seines Schöpfers sehen und ihm mit all der positiven Kraft begegnen, die ich für mich selbst in Anspruch nehme. Und Nächster ist jeder, der mir gegeben ist, nicht derjenige oder diejenige, die ich mir aussuche nach Verhalten, Herkunft und Abstammung.
Nächster, dieses Wort ist aus der Perspektive Gottes heraus universal zu verstehen. Nicht zuletzt auch in einer globalen und vernetzten Welt, in unserem Teil der Welt, der von Wohlstand geprägt ist, gewinnt es eine neue Bedeutung, dass der mein Nächster ist, der mir aufgegeben ist. Wird mir nicht auch der Flüchtling auf dem Boot im Mittelmeer zum Nächsten, obwohl er sich geographisch nicht in meiner Nähe befindet, ich aber von der Not erfahre? Sind mir nicht die verfolgte christliche Mitschwester, der Mitbruder in einem Land mir Nächste, auch wenn dieses Land nicht an das unsere grenzt, sie alle wie der Notleidende nebenan, den ich sehe, dem ich begegne?
"Was ihr einem der Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan" (vgl. Mt 25,40), sagt der Herr. Gerade auch dort, wo es uns schwer fallen kann, jemanden als Nächsten zu akzeptieren, weil es anstrengend wird für uns, weil durch den anderen unser gewohntes Leben mit seiner Ordnung hinterfragt wird, gerade dort ist der Herr selbst zugegen. Er identifiziert sich mit jedem notleidenden Menschen und erhebt ihn zu sich, lässt ihn teilhaben an seiner Würde. Caritatives Handeln, das diese Verheißung Jesu ernst nimmt, macht die Menschlichkeit unseres christlichen Glaubens ansichtig. Erhöhung des Menschen, vor allem jenes in Not.
Heutzutage sind viele Menschen auch außerhalb des christlichen Kontextes bereit zu humanitärer Hilfe, viele setzen sich an den Rändern der Gesellschaft tatkräftig ein für soziale Belange, wofür wir dankbar sein dürfen. Soziale und pflegerische Kompetenz ist zudem kein Monopol kirchlicher Caritas oder Diakonie. Der Staat sorgt überdies durch die Sozialgesetzgebung und vielfältige Regelungen für die Einhaltung von Standards. Das lässt uns nach dem Speziellen christlicher Caritas fragen.
Caritativer Einsatz zielt nicht nur auf Linderung der Not, auf Einsatz für Schwache und Benachteiligte, christliche Caritas ist nicht allein Ausübung von mitmenschlicher Solidarität. Als Christen bekennen wir doch, dass das Wort Fleisch geworden ist unter uns, d. h. dass Gott aus Liebe zur Welt in den Dialog mit der Welt getreten ist. Die Evangelien bezeugen seinen Dialog, den er mit heilenden Worten und Taten gegenüber allem Unheil und Leid der Welt führte, besonders gegenüber der Sünde, der Wurzel allen Unheils. Nicht mit Gewalt und Macht, sondern durch Liebe bis zur Selbstaufgabe am Kreuz hat er sie überwunden. So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab (vgl. Joh 3,16). Einen Glaube an das Fleisch gewordene Wort Gottes ohne Fortführung des Dialogs aus der Kraft der Liebe kann es nicht geben. Ohne Liebe ist alles nichts.
So ist christliche Caritas für die kritischen Zeitgenossen vielleicht eine der verständlichsten Form unseres Dialogs mit der Welt. Am anschaulichsten lässt caritatives Handeln im Geiste Jesu erahnen, was Religion, was Glaube an Christus bedeutet. Caritatives Handeln als praktizierter christlicher Glauben an die Gegenwart Christi im Notleidenden.
Liebe Schwestern und Brüder, weil wir durch Taufe und Firmung zu diesem Dialog gerufen sind, den Gott selbst eröffnete, dürfen wir innerkirchlich caritatives Handeln nicht auf die Institution Caritas wegdelegieren. Caritas hat sich auf zwei Füßen zu bewegen: Sie muss ein lebendiges Anliegen der Pastoral der Pfarreien und kirchlichen Verbände sein und sie soll fachlich kompetent und verantwortlich organisiert im Caritasverband wahrgenommen werden. Immer aber lebt sie von Gesichtern und Herzen.
Wir sind heute zusammengekommen, um für 100 Jahre Caritasverband im Bistum Eichstätt zu danken. Damals drängte es Menschen aus den Pfarreien und bereits bestehenden Verbänden heraus Antwort zu geben auf die große Not ihrer Zeit. Der schreckliche Erste Weltkrieg ging dem Ende zu, die Menschen waren erschöpft vom Krieg und litten an vielerlei Nöten. So organisierten sich viele Kräfte zum diözesanen Caritasverband. Als Hauptinitiatoren sind zu nennen der damalige Pfarrer von Wachenzell, Dr. Joseph Seitz, und Generalvikar Karl Vogt. Sie verstanden die Zeichen der Zeit als Anruf und gründeten am 3. September 1918 den Eichstätter Diözesan-Caritasverband als ersten bayerischen Caritasverband, der durch den damaligen Bischof Leo von Mergel die kirchliche Bestätigung erhielt. Durch Vinzenzverein, Frauenbund und andere katholische Standesvereinigungen war der Boden für die Gründung bereitet.
Sie gaben Antwort auf die Nöte durch Caritas-Liebeswerke. Was Jahre später ein aus der Diözese Eichstätt stammender bayerischer Landescaritasdirektor formulierte, ist die spirituelle Grundlage einer jeden caritativen Tätigkeit: "Christus ist der Bruder des Elends."
In dieser Feier wollen wir der diözesanen Caritas, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wie auch den Ehrenamtlichen danken, dass sie Christus im Bruder und in der Schwester dienen, ob bewusst oder unbewusst. Es kommt nicht immer so sehr auf unser subjektives Erkennen oder Empfinden an, sondern auf das Urteil des Herrn: was ihr den Geringsten getan habt, habt ihr mir getan. Er ist zugegen in der Not und an den Grenzen des menschlichen Lebens. Sind wir dort, bewegen wir uns ganz nahe bei ihm.
Wir wollen ebenso danken für die Schwachen, Gebrechlichen, Leidenden, für die wir Sorge tragen. Sie sind ein Schatz für uns, weil sie uns zu Christus führen, der in ihnen bei uns gegenwärtig wird.
Caritas ist dienende Liebe und liebender Dienst, den wir erweisen, den Christus uns durch Menschen erweist. Gewiss werden die hehren Worte in der Realität vielfach eingegrenzt durch Reglements, durch gesetzliche Vorgaben und finanzielle Zwänge. Und doch geht es in all dem Ringen weiterhin um die Linderung von Not, um Hilfe in Not und um Christus in der Schwester und im Bruder. Bitten wir um Kraft und Gnade, damit unsere diözesane Caritas ein Segen sein und bleiben kann.
Amen
Bischof Gregor Maria Hanke